Golden Rule: Kompass für schwierige ZeitenSample
Tag 4: Jenseits von Gegenleistung und Vergeltung (Lukas 6,27-35; Hesekiel 18,23; Römer 12,21)
„Context is King“ hat mein Griechischdozent im Theologiestudium immer gern gesagt. Wenn man wissen will, was ein Wort oder ein Satz bedeutet, muss man auf den ganzen Zusammenhang achten. Einfach nur zu wissen, wie man ein Wort isoliert übersetzt, reicht nicht aus. Die Evangelisten stellen die Worte Jesu immer in einen weiteren Zusammenhang - und zwar nicht aus Versehen, sondern mit voller Absicht. Das gilt auch für die Goldene Regel.
Bei Lukas beginnt der Abschnitt, in dem die Goldene Regel steht, mit einer Provokation: „Liebt eure Feinde. Tut denen Gutes, die euch hassen.“ Wie bitte, was? Kurz danach kommen bekannte Jesus-Worte: Die segnen, die einem fluchen, die andere Wange hinhalten, Gestohlenes oder Geliehenes nicht zurückfordern. Diese Verse haben Gläubige aller Zeiten zu Gewaltlosigkeit und Friedensarbeit inspiriert. Gleichzeitig gab es aber auch schon immer Zweifel daran, ob sich das so leben lässt. Was ist, wenn jemand in mein Haus einbricht oder meine Familie bedroht? Was, wenn ein Land wie die Ukraine sich militärisch verteidigen muss? Laufen Jesu Worte auf Gewaltverzicht bis hin zum Verzicht auf Notwehr hinaus?
Bis heute werden solche Grenzfälle lang und breit diskutiert. In der Feindesliebe sehen wir die mit Abstand höchste Steigerung der Goldenen Regel. Sogar deine Feinde - Leute, die dir unsympathisch sind, unfair, dir zur Last fallen, die dir schaden wollen - sind Menschen. Sie zu verdammen ist menschlich gesprochen sehr einfach. Anders Gott. Die Begründung für die Feindesliebe ruht in Gottes Charakter: „Denn Gott selbst ist gut zu den undankbaren und schlechten Menschen“ (Lukas 6,35). Schon mitten in den prophetischen Unheilsankündigungen an Israel im Alten Testament heißt es auf einmal: „Meint ihr, es würde Mir Freude machen, wenn ein Gottloser sterben muss? Nein, Ich freue Mich, wenn er von seinen falschen Wegen umkehrt und lebt!“ (Hesekiel 18,23). Gott behält auch bei denjenigen, die auf „falschen Wegen“ unterwegs sind, ihre Menschlichkeit im Blick.
Die Goldene Regel und die Feindesliebe passen aus folgendem Grund zusammen: Beide laden dazu ein, das Prinzip von Gegenleistung, Vergeltung und Gegenseitigkeit zu durchbrechen und unser (Achtung, Wortungetüm) transaktionelles Beziehungsverständnis hinter uns zu lassen. Das Wort „Transaktion“ kommt aus der Handelssprache: Man tauscht Güter gegen Geld oder eine Ware für die andere. Solche mehr oder weniger sichtbaren Tauschverhältnisse gibt es auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Gleiches wird mit Gleichem vergolten - Freundlichkeit gegen Freundlichkeit, Höflichkeit gegen Höflichkeit, Böses und Hass mit Bösem und Hass. Unser Verhalten ist ein Wechselspiel aus Aktion und Reaktion.
Das Problem: Man bleibt in einem Teufelskreis gefangen. Das sieht man im persönlichen Leben wie auf der Bühne der Weltpolitik. Eskalierende Streitgespräche, in denen sich die Gemüter erhitzen, weil ein Wort auf das andere folgt. Das atomare Wettrüsten im Kalten Krieg. Gewalt und Gegengewalt zwischen verfeindeten Nationalstaaten, Religionen und Ethnien.
Der Ausbruch beginnt mit einem selbst - wenn man die Goldene Regel ernst nimmt und nicht auf den Kreis derjenigen eingrenzt, mit denen man eh gut klarkommt. Und genau auf so eine „Entgrenzung“ der Goldenen Regel zielt Jesus:
„Wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben: Welchen besonderen Dank erwartet ihr von Gott? Sogar die Sünder lieben ja die, von denen sie geliebt werden. Wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun: Welchen besonderen Dank erwartet ihr von Gott? Sogar die Sünder handeln so.“
Wenn unsere Bereitschaft, die Goldene Regel zu leben, von der positiven Reaktion der anderen abhängt, ist sie noch nicht zu Ende gedacht. Mit den Worten des Bibeltextes: Das ist überhaupt nichts Besonderes, das machen sogar diejenigen, die als „Sünder“ verschrien sind.
Die Überwindung von Gewalt und Gegengewalt und wahrer Friede zwischen den Menschen ist nur dort möglich, wo wir anfangen, „Böses mit Gutem zu überwinden“, wie Paulus es im Römerbrief formuliert. Dafür müssen wir zunächst aufhören, unsere Beziehungen zueinander wie einen Tauschhandel zu sehen.
Impulse zum Weiterdenken
1. Was ist dein spontanes Bauchgefühl, wenn Jesus dazu auffordert, die Goldene Regel auf deine „Feinde“ anzuwenden?
2. Denke an Leute, die dir das Leben schwer machen. Schreibe gerne eine Liste. Ein erster Schritt in die Jesus-Richtung könnte sein, bewusst für sie zu beten.
3. In welchen Lebensbereichen hoffst du, dass wir als Jesus-Nachfolger/innen dazu beitragen können, den Teufelskreis aus Gegenleistung und Vergeltung entschieden zu durchbrechen?
About this Plan
Die Goldene Regel ist eine „Faustregel“ des Glaubens. Einfach genug, dass jeder sofort damit anfangen kann, sie in die Tat umzusetzen. Gleichzeitig ruht in ihr die Kraft, die Welt zu verändern. Wie du dich ganz persönlich mit der Goldenen Regel auf den Weg machen kannst - darum geht es hier. Zum Anhören und Selberlesen.
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